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Die Erschließung der Langsamkeit

  • Autorenbild: Eva Lenz-Collier
    Eva Lenz-Collier
  • 16. Apr.
  • 2 Min. Lesezeit

Der Frühling ist keine langsame Jahreszeit. Alles drängt, alles treibt. Es beginnt früh, meist schon im Februar: die Knospen, das Licht, die Kalender. Auch wir sind auf Start programmiert – trainiert auf Tempo seit dem Kindergarten. „Erster!“, rufen Kinder beim Anziehen, beim Essen, beim Klettern. Schnell sein heißt: gut sein. Wer zu spät kommt, verpasst – nicht nur den Bus, sondern womöglich die ganze Welt.


Eine beige-graue Katze sitzt auf einer dunklen Holzkommode. Im Hintergrund steht ein minimalistisches Arrangement aus einer japanischen Lampe, einem kleinen Zweig mit rosa Blüten und Teeschalen auf einem Holztablett vor einer dunkelblauen Wand.

Vielleicht war das einer der Gründe, weshalb mir der Einstieg ins traditionelle Kintsugi anfangs so mühsam erschien. Ich war durch die Ölmalerei mit Geduld vertraut, aber diese Langsamkeit hier ging weit über das hinaus, was ich kannte. Fünf Wochen – mindestens – bis das Gold aufgetragen wird? Warum dauert etwas, das sich nach „Zusammenkleben und Vergolden“ anhört, so lange? Ich hatte bisher mit Sekundenkleber gearbeitet, mit Heißkleber und Pinselstrichen. Was ich lernen musste: Die Arbeit mit Kintsugi beginnt nicht mit dem Reparieren, sondern mit dem Verstehen.


Jeder Schritt beim traditionellen Kintsugi erfordert Geduld und Sorgfalt.

Ein Satz, der sich oft erst im Tun erschließt. Was zunächst wie eine technische Anweisung klingt, wird in der Praxis zur Haltung.


Zwei Hände halten vorsichtig die Scherben einer zerbrochenen Keramikschale. Die Schale liegt auf einem weißen Stoff, bereit zur Kintsugi-Reparatur.

Denn jedes Material hat seinen eigenen Rhythmus. Urushi, der traditionelle Japanlack, trocknet nicht an der Luft, sondern durch Feuchtigkeit – langsam, in kontrollierter Umgebung. Ein Schritt folgt dem nächsten mit Bedacht. Die Vorbereitung der Scherben – Reinigung, Anpassung – kann Stunden dauern, je nach Zustand. Nach dem Verkleben: warten. Eine Woche. Danach: Füllen, schleifen, aushärten lassen. Dann: Schichten des Zwischenlacks – drei, oft mehr als zehn. Jede braucht ein bis zwei Tage. Jede Schicht ein Moment des Innehaltens.


Das Material fordert Langsamkeit. 

Kein Schritt lässt sich abkürzen, kein Prozess beschleunigen – Urushi verlangt Achtsamkeit und Geduld. Es zeigt uns, dass Dinge nicht schneller fertig sind, nur weil wir es wollen.



Mit der Zeit habe ich diese Langsamkeit nicht nur akzeptiert, sondern lieben gelernt. Ich sehe das fertige Stück nicht erst am Ende – es offenbart sich in Etappen. Die Zwischenzustände haben ihre eigene Ästhetik, ihre eigene Sprache. Die Arbeit verlangsamt den Alltag. Sie schärft die Wahrnehmung, nicht nur für das Material, sondern auch für das, was zwischen den Dingen liegt: Zeit, Wandlung, Geduld.


Arbeit mit Kintsugi entschleunigt den Alltag.

Diese Entschleunigung ist kein romantischer Selbstzweck, sondern eine Folge des rhythmischen Arbeitens mit natürlichen Prozessen. Sie verändert, wie man Zeit erlebt.


Ich werde oft gefragt, ob es schwer sei, ein Stück nach so langer Arbeit wieder aus der Hand zu geben. Aber das Entscheidende ist nicht das Ergebnis, sondern der Weg dorthin. Die Verbindung zu einem Objekt wächst mit jedem Schritt – und wird doch nicht festgehalten. Es geht nicht um Besitz, sondern um Präsenz. Um das Begleiten eines Prozesses. Getreu seines Ursprungs im Zen-Buddhismus lehrt Kintsugi: Nicht das Ziel zählt, sondern der Weg dahin.


Eine grob strukturierte, schwarze Schale mit goldener Kintsugi-Reparatur steht in einem Bücherregal zwischen alten, teils abgegriffenen Büchern.
Keramik von Feier Wang, Schale SHĀN I 山 一 aus der Kollektion „meikō 名工“

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