Kunst, Kōgei und Kintsugi
- Eva Lenz-Collier
- 18. März
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. März
Ist Kintsugi Kunst?
Diese Frage stellte ich mir erstmals, als ich für behördliche Zwecke meinen Beruf definieren sollte. Die Antwort war ein klares Nein: Kintsugi sei eine Restaurationsmethode und damit keine Kunstform. Doch eine Restauratorin machte mir deutlich, dass Kintsugi auch keine Restauration sei, da es das ursprüngliche Objekt nicht nur wiederherstelle, sondern sichtbar transformiere.
Nicht Kunst also, aber auch nicht reines Handwerk. Während man es in Deutschland als Kunsthandwerk bezeichnen würde, gibt es in Japan einen spezifischeren Begriff: Kōgei – die Kunst des Handwerks.

Kōgei: Zwischen Handwerk und Kunst
Kōgei (工芸) bewegt sich an der Schnittstelle von meisterhafter Handwerkskunst und künstlerischem Ausdruck. Bis ins späte 19. Jahrhundert gab es in Japan keine klare Trennung zwischen Kunst und Handwerk – alle Kunsthandwerker wurden als shokunin bezeichnet, unabhängig davon, ob sie Alltagsgegenstände oder Werke der bildenden Kunst schufen. Erst zur Weltausstellung 1873 in Wien wurde der Begriff bijutsu (Schöne Kunst) eingeführt, um den westlichen Kategorien zu entsprechen. Daraus entwickelte sich bijutsu kōgei – das Kunsthandwerk.
Um kōgei (工芸) zu verstehen, muss man zunächst seine Bedeutung begreifen. Das jahrhundertealte japanische Wort ist eine Verschmelzung verschiedener Bezeichnungen und liegt am besten an der Schnittstelle zwischen „hochqualifizierter Handwerkskunst“ und „künstlerischem Ausdruck“, um den Prozess hinter den Werken zu beschreiben. (Ala Champ)
Bis in die 1920er Jahre stand kōgei für „angewandte Kunst“ und war eng mit internationalen Exportprogrammen verknüpft. Später verlagerte sich die Bedeutung auf traditionell gefertigte, handwerkliche Produkte. Heute erfährt der Begriff erneut eine Wandlung: Zeitgenössische Künstler erforschen in Ausstellungen wie Japanese Kōgei | Future Forward (2015) die Vielschichtigkeit dieses Genres.
Kintsugi als Medium in der Kunst
Darüber hinaus kann Kintsugi als erzählerisches Medium dienen und das Objekt mit dem ästhetischen Konzept von wabi-sabi, der Schönheit des Imperfekten, verbinden. Dies zeigt sich in der zeitgenössischen Kunst auf vielfältige Weise.
Yee Soo-Kyung: Verschmelzung von Tradition und Moderne
Die südkoreanische Künstlerin Yee Soo-Kyung nutzt die Kintsugi-Technik für ihre Skulpturenreihe Translated Vase, darunter die fünf Meter hohe Nine Dragons in Wonderland, die 2017 auf der Viennale ausgestellt wurde. Inspiriert von der chinesischen Legende der neun Drachenkinder betrachtet sie Tradition als wandelbar: kein starres, heiliges Erbe, sondern ein hybrides, organisches Konzept, das sich durch den kulturellen Austausch stetig weiterentwickelt.
Claire Healy & Sean Cordeiro: Die kreative Kraft der Zerstörung
Seit Jahren gibt es Vorwürfe, dass wertvolle Keramiken absichtlich zerbrochen und mit der Kintsugi-Technik repariert wurden, um ihre ästhetische Wirkung zu steigern. Die australischen Künstler Claire Healy und Sean Cordeiro greifen dieses Spannungsfeld in ihrer Installation Drunken Clarity auf. Sie untersuchen den bewussten Akt der Zerstörung als kreativen Prozess – ein Prinzip, das sich sowohl in dieser Form der Kintsugi-Technik als auch im menschlichen Verhalten widerspiegelt. Der absichtliche Kontrollverlust durch Alkohol, oft mit Begriffen wie smashed oder obliterated beschrieben, dient der Suche nach neuen Erfahrungen. Der folgende Kater kann Momente der Klarheit und Inspiration bringen, wenn Erschöpfung und Serotoninabfall einen introspektiven Zustand erzeugen.
Jens Umbach: Sichtbarmachung innerer Narben
Der Hamburger Fotograf Jens Umbach bat mich im Sommer 2023 um eine persönliche Kintsugi-Schulung, um die Technik in seiner Fotografie zu nutzen und mentale Narben zu thematisieren. Seine Ausstellung Mental Health Kintsugi zeigt Porträts von Menschen, die psychische Erkrankungen überwunden haben. Die Bilder werden auf Keramikfliesen gebrannt, zerbrochen und mit 24-karätigem Gold nach Kintsugi-Tradition repariert – als sichtbares Zeichen für Heilung und Selbstakzeptanz. Die Ausstellung erzählt in Fotografien und Interviews Geschichten von Hoffnung und Neubeginn und regt zum Dialog über mentale Gesundheit an.
Ausstellung: Jens Umbach - Mental Health Kintsugi, 15. bis 29. März 2025,
Galerie pavlov’s dog zu Gast im Studioatelier Yves Sucksdorff | Meinekestr.6, 10719 Berlin
Special Event am 22.3.2025, 15:00 Uhr : Talk mit Eva Lenz-Collier über die kulturellen und geschichtlichen Hintergründe der Kintsugi-Technik
Kintsugi als Wiedergeburt zerbrochener Kunstwerke
Anfang 2021 wurde mir von der Sammlerin Sandy Hill eine besondere Skulptur anvertraut: ein Werk aus Yassi Mazandis Flower Series, das ihr zu Bruch gegangen war. Nach persönlichen Gesprächen und der Einwilligung der Künstlerin begann die Reparatur.
Mazandis Flower Series entstand nach einem Besuch im Natural History Museum in London, wo sie die harmonische Struktur der Dinosaurierwirbel inspirierte. In Verbindung mit ihrem Interesse an Schneeflocken entwickelte sie florale Wirbel und Wirbelsäulen – eine Symbiose aus technischer Geometrie und organischer Ästhetik.

Zwei Jahre später zerbrach eine weitere Skulptur der Sammlerin während eines Umzugs, und erneut durfte ich an einem Werk Mazandis arbeiten. Diesmal erforderte die Stabilität der Bruchstellen neben der Kintsugi-Technik auch den Einsatz von Golddraht – eine Erweiterung des traditionellen Ansatzes, die dem Werk eine ganz eigene Ausdruckskraft verlieh.
Fazit
Ob als kunsthandwerkliche Tradition, als Medium zeitgenössischer Kunst oder als Ausdruck persönlicher Transformation – Kintsugi bewegt sich an den Grenzen zwischen Restauration, Handwerk und Kunst. Es erzählt Geschichten des Bruchs und der Wiederherstellung und zeigt, dass wahre Schönheit oft dort entsteht, wo wir Narben nicht verbergen, sondern bewusst sichtbar machen.
Quellen:
Aleksandra Cieśliczka: “THE BOUNDARY BETWEEN THE ART AND PRODUCT - On the meaning and form of kōgei in the past and present” (PDF)
Noriyaki Kitazawa “Me no shinden” (1989)
KOGEI JAPAN - Traditional Crafts of Japan
Museum of Art & Design, NYC - Japanese Kōgei | Future Forward
The Korea Times - “Yee Soo-kyung's aesthetic journey through broken ceramic shards, illusory rose garden”
—
Künstler:
Yee Sookyung, Seoul - "Translated Vase_Nine Dragons in Wonderland”, Youtube
Claire Healy & Sean Cordeiro, Australien - "Drunken Clarity"
Jens Umbach, Hamburg - "Mental Health Kintsugi"
Yassi Mazandi, Teheran - FLOWERS
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