Mottainai – oder das Bedauern, etwas zu verschwenden
- Consuelo Rocha Dietz
- vor 3 Tagen
- 3 Min. Lesezeit
„Was für eine Verschwendung!“ Diesen Satz hören wir oft – sei es, wenn wir vergessene Lebensmittel entsorgen müssen oder ein Glas Wein aus Versehen umkippt. Doch in Japan würde man in solchen Momenten ein einziges Wort sagen: Mottainai!
Dabei schwingt weit mehr mit als bloßes Bedauern. Mottainai drückt nicht nur Verlust, sondern auch Dankbarkeit, Wertschätzung und ein tiefes Gefühl der Bescheidenheit aus. In einer Zeit zunehmender Ressourcenknappheit und Umweltkrisen erhält dieses alte japanische Wort eine neue, globale Relevanz.
Herkunft und Bedeutung des Begriffs
Mottainai (勿体無い oder もったいない) hat seine Wurzeln sowohl im Shintoismus als auch im Zen-Buddhismus und verkörpert ein tief verwurzeltes kulturelles Verständnis vom Wert der Dinge.

Shintoismus: Die beseelte Welt
Im Shinto-Glauben sind nicht nur Menschen oder Tiere beseelt – auch unbelebte Gegenstände besitzen eine Anima, eine Seele. Alles ist durchdrungen von Kami, göttlichen Wesenheiten, die Respekt und Achtsamkeit verlangen. Etwas achtlos wegzuwerfen, bedeutet, diesen Geistern nicht den gebührenden Respekt zu erweisen. Verschwendung ist daher nicht nur praktisches, sondern spirituelles Fehlverhalten.
Buddhistische Perspektiven: Substanz und Dankbarkeit
Im Zen-Buddhismus des 13. Jahrhunderts bedeutete mottai „Substanz“ oder „Wesenskern“, während nai ein Fehlen ausdrückt. Mottainai bedeutet damit wörtlich: das Fehlen von Substanz – oder tiefer verstanden: der Verlust dessen, was etwas bedeutungsvoll macht.

Aus dieser Sicht existiert nichts für sich allein. Jeder Gegenstand ist das Ergebnis vieler Mühen und Ressourcen. Etwas zu verschwenden bedeutet daher, auch all das ungenutzt zu lassen, was in seiner Entstehung steckt – eine zutiefst ethische und demütige Sichtweise.
Mottainai im Alltag – Rituale der Wertschätzung
In Japan finden sich zahlreiche Rituale und Zeremonien, die diesem Geist Ausdruck verleihen. Zwei besonders eindrucksvolle Beispiele:
Hari Kuyō – Die Zeremonie der Nähnadeln
Einmal im Jahr werden in vielen Tempeln Japans ausgediente Nähnadeln geehrt. Sie werden in Tofu oder Konnyaku gesteckt – weiche Speisen, die ihnen symbolisch ein ruhiges „Ruhestandsbett“ bieten. In einer Zeremonie wird ihnen für ihren treuen Dienst gedankt.

Pinsel-Festival in Nara
Beim jährlichen Pinsel-Festival (Fude Matsuri) am Suragawa Tenmangu Schrein in Nara werden alte, abgenutzte Pinsel in einer feierlichen Prozession dem Feuer übergeben – begleitet von Gebeten und Gesängen. Hier zeigt sich, wie tief der Respekt vor Werkzeugen und deren Geschichte verwurzelt ist.
Traditionelle Techniken des Reparierens und Erhaltens
Mottainai ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine Praxis. In Japan haben sich über Jahrhunderte Techniken entwickelt, die aus Abnutzung und Beschädigung etwas Neues und Schönes machen:
• Kintsugi – die Kunst, zerbrochene Keramik mit Gold zu reparieren, und die Schönheit des Unvollkommenen zu würdigen
• Sashiko – kunstvolle Sticktechniken zur Verstärkung und Verschönerung von Kleidung
• Boro – das kunstvolle Flicken und Weiterverwenden abgetragener Textilien
Mottainai und Umweltschutz – ein globales Prinzip
Internationale Aufmerksamkeit erhielt der Begriff 2005, als die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai ihn auf einem UN-Gipfel als Slogan für eine Umweltschutzkampagne verwendete.
„Mottainai ist nicht nur ein Wort. Es ist eine Haltung gegenüber der Welt.“ – Wangari Maathai
Sie verband Mottainai mit den drei großen Umweltprinzipien: Reduce, Reuse, Recycle – also Reduzieren, Wiederverwenden und Recyceln. Damit brachte sie eine jahrhundertealte Weisheit in den globalen Diskurs über Nachhaltigkeit ein.
Die Relevanz von Mottainai heute
Mottainai ist mehr als Nostalgie oder Folklore. Es ist ein praktisches, spirituelles und ethisches Konzept, das uns zu mehr Achtsamkeit im Umgang mit Ressourcen aufruft.
In einer Welt, die zunehmend unter Überkonsum, Umweltzerstörung und Wegwerfkultur leidet, kann Mottainai eine Brücke sein – zwischen Tradition und Zukunft, zwischen spiritueller Haltung und praktischem Handeln.
Vielleicht sollten auch wir öfter innehalten und – wenn etwas zerbricht, verloren geht oder verschwendet wird – sagen:
Mottainai.
Links zu Projekten und Kreativen
mottai!nein (Sustainable Creativity in Berlin)
keiko oboshi (Sashiko Workshops)
Sekundär-Schick (Upcycling, DIY Nähtutorials, Kleidertauschpartys)
Kleidertausch (Kleidertausch Events finden)
NochMall (Second Hand Einkaufszentrum der BSR mit Events rund um Upcycling)
kunst.stoffe (Repair Cafés)
Peek & Cloppenburg Conscious Fashion Store (Offenes Nähcafé am Potsdamer Platz)
Repair Cafe (Weltweit Repair Cafés finden)
Upcycling Workshops auf Konfetti
コメント