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Mottainai – oder das Bedauern, etwas zu verschwenden

  • Autorenbild: Consuelo Rocha Dietz
    Consuelo Rocha Dietz
  • vor 3 Tagen
  • 3 Min. Lesezeit

„Was für eine Verschwendung!“ Diesen Satz hören wir oft – sei es, wenn wir vergessene Lebensmittel entsorgen müssen oder ein Glas Wein aus Versehen umkippt. Doch in Japan würde man in solchen Momenten ein einziges Wort sagen: Mottainai!


Dabei schwingt weit mehr mit als bloßes Bedauern. Mottainai drückt nicht nur Verlust, sondern auch Dankbarkeit, Wertschätzung und ein tiefes Gefühl der Bescheidenheit aus. In einer Zeit zunehmender Ressourcenknappheit und Umweltkrisen erhält dieses alte japanische Wort eine neue, globale Relevanz.


Herkunft und Bedeutung des Begriffs


Mottainai (勿体無い oder もったいない) hat seine Wurzeln sowohl im Shintoismus als auch im Zen-Buddhismus und verkörpert ein tief verwurzeltes kulturelles Verständnis vom Wert der Dinge.

Ein farbenprächtiger japanischer Holzschnitt-Triptychon aus dem 19. Jahrhundert, geschaffen von Utagawa Kunisada (Toyokuni III). Die Szene zeigt die mythologische Erzählung der Sonnengöttin Amaterasu, die sich in eine Höhle zurückgezogen hat und dadurch die Welt in Dunkelheit stürzt. In der mittleren Bildtafel erscheint Amaterasu, umgeben von strahlenden Lichtstrahlen. Um sie herum sind mehrere Götter und Figuren in aufwendigen, traditionellen Gewändern dargestellt, die mit Masken, Trommeln und rituellen Objekten die sogenannte „Iwato-Kagura“ Tanzzeremonie aufführen, um sie aus der Höhle zu locken. Die Komposition ist reich verziert, voller Bewegung und symbolträchtiger Details.
"Entstehung des Iwato Kagura Tanzes" Triptychon von Utagawa Kunisada (aka Toyokuni III)

Shintoismus: Die beseelte Welt


Im Shinto-Glauben sind nicht nur Menschen oder Tiere beseelt – auch unbelebte Gegenstände besitzen eine Anima, eine Seele. Alles ist durchdrungen von Kami, göttlichen Wesenheiten, die Respekt und Achtsamkeit verlangen. Etwas achtlos wegzuwerfen, bedeutet, diesen Geistern nicht den gebührenden Respekt zu erweisen. Verschwendung ist daher nicht nur praktisches, sondern spirituelles Fehlverhalten.


Buddhistische Perspektiven: Substanz und Dankbarkeit


Im Zen-Buddhismus des 13. Jahrhunderts bedeutete mottai „Substanz“ oder „Wesenskern“, während nai ein Fehlen ausdrückt. Mottainai bedeutet damit wörtlich: das Fehlen von Substanz – oder tiefer verstanden: der Verlust dessen, was etwas bedeutungsvoll macht.


Zahlreiche hölzerne Ema-Tafeln hängen dicht an dicht an einem hölzernen Gestell in einem japanischen Shintō-Schrein, nahe einem Gewässer. Die Tafeln sind mit handschriftlichen Wünschen und Gebeten beschrieben und teilweise mit bunten Motiven verziert, wie z. B. dem roten Torii-Tor von Itsukushima. Die Ema sind mit weißen Bändern befestigt und schaffen ein vielschichtiges, textreiches Bild. Durch die Holzgitterstruktur fällt Licht auf das Wasser im Hintergrund. Die Atmosphäre wirkt andächtig und ruhig.
Itsukushima-jinja Shinto Shrine, Miyajima, Japan

Aus dieser Sicht existiert nichts für sich allein. Jeder Gegenstand ist das Ergebnis vieler Mühen und Ressourcen. Etwas zu verschwenden bedeutet daher, auch all das ungenutzt zu lassen, was in seiner Entstehung steckt – eine zutiefst ethische und demütige Sichtweise.


Mottainai im Alltag – Rituale der Wertschätzung


In Japan finden sich zahlreiche Rituale und Zeremonien, die diesem Geist Ausdruck verleihen. Zwei besonders eindrucksvolle Beispiele:


Hari Kuyō – Die Zeremonie der Nähnadeln


Einmal im Jahr werden in vielen Tempeln Japans ausgediente Nähnadeln geehrt. Sie werden in Tofu oder Konnyaku gesteckt – weiche Speisen, die ihnen symbolisch ein ruhiges „Ruhestandsbett“ bieten. In einer Zeremonie wird ihnen für ihren treuen Dienst gedankt.


Mehrere Frauen, teilweise in traditionellen Kimonos gekleidet, stehen in einer Reihe und nehmen an einem japanischen Ritual teil. Im Vordergrund befindet sich ein flacher Teller, geschmückt mit roten Blumen, in dessen Mitte ein weiches Tofu- oder Konnyaku-Stück liegt, in das Nadeln gesteckt werden. Dieses Ritual ist als „Hari-kuyō“ bekannt – eine Gedenkzeremonie für ausgediente Nähnadeln. Die Szene spielt in einem schlichten, tatami-ausgelegten Raum mit Shoji-Schiebetüren im Hintergrund. Die Stimmung wirkt ruhig und respektvoll.
Eine Nadelandacht (Hari Kuyō) im Schrein Awashima (Foto von Genichi Toyoshi (豊瀬源一))

Pinsel-Festival in Nara


Beim jährlichen Pinsel-Festival (Fude Matsuri) am Suragawa Tenmangu Schrein in Nara werden alte, abgenutzte Pinsel in einer feierlichen Prozession dem Feuer übergeben – begleitet von Gebeten und Gesängen. Hier zeigt sich, wie tief der Respekt vor Werkzeugen und deren Geschichte verwurzelt ist.


Traditionelle Techniken des Reparierens und Erhaltens


Mottainai ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine Praxis. In Japan haben sich über Jahrhunderte Techniken entwickelt, die aus Abnutzung und Beschädigung etwas Neues und Schönes machen:


Kintsugi – die Kunst, zerbrochene Keramik mit Gold zu reparieren, und die Schönheit des Unvollkommenen zu würdigen


 Sashiko – kunstvolle Sticktechniken zur Verstärkung und Verschönerung von Kleidung


Boro – das kunstvolle Flicken und Weiterverwenden abgetragener Textilien




Mottainai und Umweltschutz – ein globales Prinzip


Internationale Aufmerksamkeit erhielt der Begriff 2005, als die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai ihn auf einem UN-Gipfel als Slogan für eine Umweltschutzkampagne verwendete.

„Mottainai ist nicht nur ein Wort. Es ist eine Haltung gegenüber der Welt.“ – Wangari Maathai

Sie verband Mottainai mit den drei großen Umweltprinzipien: Reduce, Reuse, Recycle – also Reduzieren, Wiederverwenden und Recyceln. Damit brachte sie eine jahrhundertealte Weisheit in den globalen Diskurs über Nachhaltigkeit ein.


Die Relevanz von Mottainai heute


Mottainai ist mehr als Nostalgie oder Folklore. Es ist ein praktisches, spirituelles und ethisches Konzept, das uns zu mehr Achtsamkeit im Umgang mit Ressourcen aufruft.

In einer Welt, die zunehmend unter Überkonsum, Umweltzerstörung und Wegwerfkultur leidet, kann Mottainai eine Brücke sein – zwischen Tradition und Zukunft, zwischen spiritueller Haltung und praktischem Handeln.


Vielleicht sollten auch wir öfter innehalten und – wenn etwas zerbricht, verloren geht oder verschwendet wird – sagen:

Mottainai.



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